Kinder und Jugendliche mit eng anliegenden Kunststoffmasken im Gesicht, die von ihren Lehrern dazu angehalten werden, diese über Stunden zu tragen – und das, obwohl sie durch einen Test nachgewiesen haben, nicht infiziert zu sein. Hochbetagte Menschen in Alters- und Pflegeheimen am Ende ihres Lebens, die von ihren Angehörigen nicht mehr besucht werden dürfen – und wenn doch, bloß von einer einzigen Person einmal die Woche eine Stunde lang. Menschen, die auf der Straße vor anderen Menschen fast panisch zurückweichen; Menschen in Wohnhäusern, die ihre Nachbarn denunzieren; Menschen, die spielende Kinder im Park wegen zu geringer Abstände anpöbeln; Menschen, die vereinsamen, weil sie es nicht mehr wagen, unter Menschen zu gehen. Es ist Februar 2021, ein Jahr, nachdem die Menschen beschlossen haben, ihr ganzes Sein der Bekämpfung eines Virus unterzuordnen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Dass es gekommen ist, wie es gekommen ist, war von Anfang an absehbar – und doch ist es ein humanitäres Desaster.
Manchen – wie auch mir – fehlen immer noch die Worte angesichts der erschütternden neuen Normalität. Viele – die allermeisten? – sind jedoch von der Richtigkeit, ja Notwendigkeit der repressiven Maßnahmen nach wie vor überzeugt. Ja, die große Mehrheit nimmt jedes Leid, jede Einschränkung, jede negative Auswirkung der Pandemiebekämpfung billigend in Kauf und betrachtet sie als zwar unschönen, jedoch unvermeidlichen Kollateralschaden einer im Grunde richtigen Politik. So bitter diese Erkenntnis ist – sie lässt sich nicht in Abrede stellen.
Wie aber konnte es soweit kommen? Wie wurde es möglich, dass Menschen, die eigentlich sich und andere schützen wollen, menschliche Grausamkeit und sozialen Kahlschlag befürworten? Was musste vonstattengehen, damit Menschen im Namen der Solidarität ihresgleichen meiden und verunglimpfen? Wie konnte die Gesellschaft eine solch paradoxe Entwicklung nehmen?
Zweifellos spielt die medial geschürte Angst eine Rolle. Die berühmten Bilder aus Bergamo, die vollen Intensivstationen, die täglich kolportierten Zahlen, die Langzeitschäden und, und, und. Und wie alles erst gekommen wäre, hätten die Regierungen nicht so hart und entschlossen durchgegriffen! Ja schon, aber lässt sich das Bedrohungsszenario tatsächlich immer noch aufrechterhalten? Sind so viele Menschen wirklich immer noch derart verängstigt, dass sie alles akzeptieren?
Ein anderer Erklärungsansatz wäre der grundsätzliche Gehorsam der Menschen, das fehlende kritische Denken, das bereits unsere bisherige Spaß- und Unterhaltungsgesellschaft geprägt hat. Mangelndes eigenständiges Denken im Zusammenspiel mit der einseitigen Berichterstattung in den meisten Medien ergibt zweifellos eine problematische Mischung. Aber all die Gebildeten, die Intellektuellen, die kulturellen Eliten, die mitunter sogar bereit wären, noch härter vorzugehen, und totalitäre Tendenzen in der Viruseindämmung nicht nur nicht wahrnehmen, sondern vehement bestreiten? Ist es plausibel, gerade jenen kritisches Denken abzusprechen?
Reale oder übersteigerte Angst, mangelndes kritisches Denken – vielleicht taugen ja beide Erklärungsansätze nur bedingt, um das kollektive Mittragen der sich ständig überbietenden Pandemiebekämpfung zu begreifen. Ich vermute, dass weder ein negatives Gefühl (Angst) noch die Abwesenheit einer Fähigkeit (mangelndes kritisches Denken) ausreichen, um die umfassende und grundsätzliche Zustimmung so vieler Menschen erklären zu können. Eher muss es etwas sein, das die Menschen positiv anspricht, etwas, das ihnen das Gefühl gibt, auf der richtigen Seite zu stehen, zu den Guten zu zählen, etwas, mit dem sie sich identifizieren und valorisieren.
Möglicherweise ist es ja das Narrativ des Fortschritts, das den gegenwärtigen Umgang mit dem Virus kennzeichnet, das der großen Mehrheit der Menschen – bewusst oder unbewusst – das Gefühl vermittelt, selbst Teil dieser Fortschrittlichkeit zu sein. Wenn man nämlich die Entwicklungen des letzten Jahres unter dem Vorzeichen des Progressiven, des Zukunftsweisenden, des Modernen betrachtet, wird eventuell erklärbar, warum es nach einem Jahr Corona-Maßlosigkeit immer noch kein Einhalten, kaum einen Aufschrei und fast keinen Protest gibt.
Was meine ich mit „Narrativ des Fortschritts“? Kern dieses Narrativs – das ebenso wie das Coronavirus selbst nicht grundsätzlich neu ist, sondern bloß eine neue Ausprägung eines bereits bekannten Typs darstellt – ist die virologische Deutung der Welt. Die Berufsgruppe der Virologen bildet in dieser Weltbetrachtung gleichsam die Avantgarde. Sie formieren sich, wenn man so will, zur Speerspitze der Medizin, sie sind diejenigen, die ihr Expertentum ins Extreme getrieben haben: Forscher und Forscherinnen, die in ihren Laboren kleinste Teilchen durchs Mikroskop betrachten und von dieser Extremposition aus nun Aussagen über das gesamte Leben tätigen. „Normale“ Menschen können Viren nicht einmal erkennen, Virologen hingegen vermögen mittels Viren die Welt zu erklären. Die Virologie wird somit in eine gottähnliche Position gehievt. Anders als das alte Modell eines alles überblickenden universalen Gottes bezieht das neue Modell seine exklusive Expertise jedoch aus der größtmöglichen Reduktion von Welt auf Partikel. Noch mehr Spezialisierung geht schlichtweg nicht. Der Virologe wird somit zum Experten par excellence und dem Experten wird der Rang des Allwissenden zuteil.
Die virologische Weltbetrachtung stellt nun allerdings keinen Bruch mit der Geschichte dar, sondern die Fortsetzung und Beschleunigung des Rationalismus, wie er mindestens seit der Aufklärung herrscht. Die virologische Sichtweise ist eingebettet in das naturwissenschaftliche Weltbild, das uns seit langem begleitet, das jedoch in den letzten Jahren deutlich expandierte und sich neuerdings auch als das einzig zulässige Menschenbild darstellt. Waren früher die Naturwissenschaften für die Erforschung und Erklärung der Natur zuständig, wurde das naturwissenschaftliche Paradigma nun auch zum Erklärungsmodell aller menschlichen und gesellschaftlichen Prozesse und Vorgänge. Am Beispiel der Schule verdeutlicht, heißt das: eine immer stärker sichtbar werdende Hierarchisierung unter den Fächern – hier die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik), dort die anderen –, die immer stärker werdende Dominanz von Zahlen und Statistiken in allen Bereichen der schulischen Realität, die zunehmende Vernachlässigung bzw. Geringschätzung menschlicher oder sozialer Komponenten und Rituale sowie nicht zuletzt: die Orientierung schulischen Lernens an objektiv messbaren Kompetenzen statt an subjektiv ganzheitlicher Bildung.
In logischer Konsequenz hat sich auch die Wahrnehmung der Wissenschaftsdisziplinen und ihr gesellschaftlicher Einfluss in den letzten Jahren rasant eingeengt. Wissenschaft ist heute im gängigen Sprachgebrauch gleichbedeutend mit Naturwissenschaft, und selbst in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften bedienen sich Forschende immer häufiger naturwissenschaftlicher Methoden. Nicht zuletzt an den sogenannten Bildungswissenschaften kann diese Entwicklung beobachtet werden.
Das Narrativ des Fortschritts mit der Virologie als ultimativer Ausprägung naturwissenschaftlichen Denkens, Fühlens und Seins korreliert selbstverständlich bestens mit der anvisierten Digitalisierung sämtlicher Lebens- und Arbeitsbereiche. Zu Beginn der gegenwärtigen Krise habe ich nicht glauben können, dass die Menschen die Verlagerung ihres Lebens in den digitalen Raum so willfährig hinnehmen. Interpretiert man die geradezu explodierende Zunahme digitalen Handelns jedoch im Kontext des herrschenden Fortschrittsparadigmas, erscheint das Ganze plötzlich folgerichtig. Hinzu kommt auch in diesem Punkt, dass die aktuell betriebene Digitalisierungsagenda keinen Bruch, sondern eine Fortsetzung (und Beschleunigung) des Bisherigen bedeutet. Mindestens seit dem Aufkommen der Smartphones haben wir diese Geräte ohnehin rund um die Uhr bei uns, ja, sie sind vielen Menschen zu geradezu unabkömmlichen Begleitern geworden. Freiwillig hatten die allermeisten ihren Taschencomputern (und den dahinter stehenden IT-Konzernen) die Lizenz zur totalen Überwachung erteilt, via App wurde bereits vor Corona Leben gesteuert und gemanagt. So gesehen war der Schritt zum Homeschooling, zur elektronischen Überwachung von Mindestabständen oder zum digitalen Impfpass nur mehr ein kleiner.
Unser Leben und Zusammenleben, unser Umgang mit der eigenen Sterblichkeit hat sich im letzten Jahr trotz der aufgezeigten Kontinuitäten grundlegend verändert. Wir haben uns gewissermaßen mit Haut und Haar dem virologischen Welt- und Menschenbild verschrieben. Fortan muss jeder menschliche Schritt durch Masken, Tests, Überwachungs- und Verfolgungsstrategien virologisch abgesichert werden. Erlösung kann nur mehr eine Impfung bringen – bevor jedes neue Virus (oder auch nur seine Mutation) die Maschinerie erneut in Gang setzen kann. Der Tod von Menschen aber, um den es in der ganzen Geschichte angeblich auch geht, bleibt aus diesem Menschenbild vollkommen ausgeklammert. Virologen können schlichtweg nichts über den Tod von Menschen (und erst recht nicht über den menschlichen Umgang mit dem Sterben) sagen, sie haben dem Tod keinerlei Sinnangebot entgegenzusetzen. Trotzdem werden sie – flankiert von Mathematikern und Simulationsexperten – zu den Heilsbringern unserer Welt.
Vielleicht ist diese virologische Wende nur der letzte Schritt auf einem langen Weg, der nunmehr genommen wurde. Das „neuartige“ Fortschrittsnarrativ wäre demnach bloß die Fortsetzung des bereits Etablierten. Möglicherweise ist mit der radikalen Zuspitzung und gleichzeitigen hegemonialen Ausdehnung des Narrativs auf alle Bereiche des Lebens aber tatsächlich ein Wendepunkt gekommen. Wie gezeigt, trägt das Fortschrittsnarrativ nämlich deutlich wahrnehmbare Züge einer zunehmend totalitär werdenden Fortschrittsideologie. Das lässt sich auch daran erkennen, dass selbst zur Besonnenheit mahnende Virologen bzw. Epidemiologen, die den Blickwinkel nur ein wenig weiten möchten, abgekanzelt werden oder ungehört bleiben. Menschen aus allen Bereichen, die an der virologischen Sichtweise Kritik üben, werden pauschal ausgegrenzt und dem reaktionären, ewig gestrigen Lager zugeordnet. Auch wenn man politisch noch nie rechts anstreifte, wird man als „Corona-Kritiker“ automatisch zum „Corona-Leugner“ gemacht. Kaum jemand, der etwas auf sich hält, setzt sich freiwillig dieser sozialen Ächtung aus. Möglicherweise ist das ja mit ein Grund, warum gerade von jungen und sich modern wähnenden Menschen so wenig Widerspruch kommt.
Wie es also gekommen ist, dass es gekommen, wie es gekommen ist? Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus verschiedenen Faktoren. Die Virusbekämpfung im Rahmen des herrschenden Fortschrittsparadigmas – welches zum zentralen Narrativ der Gegenwart erhoben und zur Ideologie gesteigert wurde – zu interpretieren, trägt vielleicht zum besseren Verständnis bei. Bleibt aus meiner Sicht nur mehr die Klärung einer weiteren, viel schwierigeren Frage: Wie bitte kommen wir da wieder heraus?
(nemo)