Gastbeitrag: Was haben die Standards mit Demokratie zu tun?

Wenn man sich die Weichenstellung im Bildungswesen ansieht, bekommt man den Eindruck, dass Inhalte zunehmend unwichtig sind. Das sagt natürlich keiner explizit. In den Beurteilungskriterien von Aufgabenstellungen werden sie nur sukzessive von Formalkriterien verdrängt.
In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg z. B. ging es fortschrittlichen Pädagogen um die Enttabuisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche und das natürlich über die kritische Reflexion von Inhalten. Es ging um Aufklärung im besten Sinne. Machtmechanismen, Unrecht, falsche Autorität, euphemistische Verschleierung – darüber sollte auch in der Schule geredet und dadurch ein kritisches Bewusstsein gefördert werden.
Bewusstmachen, was im Verborgenen die Autonomie des Einzelnen und die demokratische Ausrichtung politischer Systeme unterlief und unterläuft. Das, so denken sicher viele, ist auch heute noch ein wichtiges Erziehungsziel. Doch schauen wir uns an, was daraus zu werden droht.
Der Turbokapitalismus, der sich seit den 70er Jahren unter dem euphemistischen Fähnchen der Liberalisierung / Befreiung (! / wovon?) voll entfalten konnte, installierte eine Denkweise, die die lukrative Verwertbarkeit von allem und letztlich auch allen zum Ziel hat. Alle gesellschaftlichen Bereiche sind davon bis ins Mark durchdrungen – das reicht von so banal scheinenden Slogans wie „Mach das Beste aus deinem Typ“ und „Geiz ist geil“ bis eben auch „Was erwartet sich die Wirtschaft von unseren SchülerInnen?“.
Den Verantwortlichen im Bildungswesen fällt scheinbar gar nicht auf, was da im Zuge dieser sogenannten Bildungsreform/en tatsächlich Einzug hält. Unter dem Diktat der Vergleichbarkeit – die in ihrer Sinnhaftigkeit per se völlig unhinterfragt bleibt – halten technokratische Denkweisen Einzug in einen Bereich, der unter ihnen nur zur Belanglosigkeit zerbröselt. Bildung, Persönlichkeitsentwicklung, die Entwicklung von Kritikfähigkeit und Individualität brauchen echte Freiheit, die eigentlich ja verfassungsrechtlich garantierte Lern- und Lehrfreiheit, von der interessanterweise überhaupt nicht mehr die Rede ist.
Dafür gibt es einen Wust von Sprachregelungen, hinter denen sich oft nicht viel Neues verbirgt, die jedoch einen enormen Aufwand an administrativer Emsigkeit nach sich ziehen, sodass der Blick aufs Wesentliche schwerfällt. Die Konzentration auf Formalismen wie Operatoren, spezielle Termini etc. verstellt eben den Blick auf den Prozess, der hier abläuft.
Inhalte werden verknappt, an den Rand gedrängt, weil sie sich sperren gegen Standardisierung – die heilige Kuh der Vergleichbarkeit – sie sind ja naturgemäß individuell und nicht vorschreibbar. Die Lösung von Maturaaufgaben z. B. wird bis ins Vokabular der gewünschten Antwort textsortenorientiert vorgegeben. Wir legen heute unseren SchülerInnen mehr in den Mund, was sie bei Bedarf brav ausspucken sollen, als jemals seit 1945. Wir untergraben kreative Intelligenz, wenn wir unsere Kinder auf die brave Erfüllung von Standardaufgaben hindrillen. Es wird zwar so getan, als seien diese Standards etwas, was man als Niveau jetzt endlich einmal zu erreichen habe. Wir Lehrer aber wissen genau, dass sie eine unheimliche Verflachung dessen sind, was bisher das angestrebte Erziehungsziel war. Ich rede hier ganz bewusst nicht von Leistungsniveau, um einmal wieder klarzumachen, dass wir Lehrer eigentlich ein Erziehungsziel vor Augen haben sollten, zu dem wir mit unserem Fach einen Beitrag leisten. Nämlich den frei denkenden, kritischen, autonomen Menschen.
Es ist keine Frage, dass jede Schule ihren SchülerInnen auf dem Weg zu diesem Ziel nur so gut helfen kann, als das ihre äußeren Bedingungen zulassen. Sparmaßnahmen im Bildungswesen – und vieles von den Neuerungen und Reformen der letzten 25 Jahre sind im Kern nichts anderes als Sparmaßnahmen – erschweren natürlich diese Arbeit. Gesellschaftliche Veränderungen wie Sozialabbau und Immigration – zwei Phänomene, die seit den 70er Jahren vermehrt wirksam sind – erschweren diese Arbeit zusätzlich und wären nur durch erhöhte finanzielle Aufwände auszugleichen gewesen.Das Bildungswesen krankt an denselben Ursachen, wie globale Miseren. Das Geld ist nicht dort konzentriert, wo es der Mehrheit förderlich wäre.
Wenn aber die tatsächlichen Ursachen nicht erkannt werden, sondern durch oft selbsternannte Spezialisten am Bildungssystem herumgedoktert wird, dann kommt es zu zweifelhaften Diagnosen und dem Ruf nach einfachen Lösungen (z.B. Standards), die schlussendlich wenig bringen und viel kosten.
Es steht zu befürchten, dass die Schule der Zukunft besondere Leistungen nicht erkennen und honorieren wird. Es könnte die Glanzzeit der Mittelmäßigen werden. Sie haben nichts zu befürchten, denn in den Kompetenzrastern werden auch rein formale Fertigkeiten mit Punkten belohnt, die bislang als minimales Basiswissen vorausgesetzt wurden. Eine Gesellschaft braucht aber die Guten, die Motivierten! Das Schlimmste aber ist, dass wir unseren Kindern lernen, sich auf gestellte Aufgaben zu konzentrieren, ohne kritische Fragen zu stellen und darüber hinaus keine weiteren Anstrengungen zu unternehmen. Bisher hatten wir zunehmend das Problem, dass die Sogwirkung der modernen mediengesteuerten Konsumgesellschaft die Energie unserer Kinder absorbierte, sodass es oft ein harter Kampf war, sie für intellektuelle, gesellschaftskritische, künstlerische oder persönliche Inhalte zu interessieren. Jetzt ist dieser Kampf nicht mehr vonnöten, vielleicht sogar unerwünscht. Lehrer, die sich diesen neuen Zielen im Unterricht unterordnen, erziehen die braven Konsumenten und pragmatischen Befehlsempfänger von morgen!

Demokratie, gute Nacht!

Margit Neuböck, Lehrerin

3 Gedanken zu “Gastbeitrag: Was haben die Standards mit Demokratie zu tun?

  1. Monika Neuhofer schreibt:

    Danke, Margit, für Deinen kritisch-klugen Beitrag! Es erscheint mir wichtig, dass das jemand einmal so deutlich sagt. Ich finde eigentlich, Du solltest den Text an eine Tageszeitung schicken…

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  2. Ulrike Cihak schreibt:

    Der Text spricht auch mir – einer Nichtlehrerin – vollens aus der Seele. Noch sehe ich diese Anforderungen bei meinem Volksschulkind nur in kleinen Ansetzen, aber das Endergebnis der derzeitigen Schulbildung erlebe ich leider im Berufsalltag. Eigenmotivation und ein interessiert – kritischer Zugang zu Problemen gibt es kaum. Leider wird dieser in der Wirtschaft in einem scheinbaren Bestreben nach höchster Effizienz auch nicht gefordert. Gefordert werden die Erfüllung von Formalismen und perfekte Selbstdarstellung. Ich glaube, dass letztlich auch die Wirtschaft mit ihren Anforderungen an Schule und Uni langfristig das Gegenteil erreicht von dem was gewünscht war, nämlich ein massiver Wettbewerbsnachteil. Komischerweise hängen sich Kunden nicht an einem nicht perfekten Worddokument auf, solange man ihr Problem lösen konnte. Intern wird man aber faktisch nie für fachlich inkorrekte Inhalte blamiert. – Zusammenfassend denke ich, dass das Endergebnis des Formailsierens von Bewertungskriterien, leider schon lange die Schule verlassen hat und in der Arbeitswelt angekommen ist. Eure Bolgs zeigen mir, dass Besserung nicht in Sicht scheint – trotz engagierter Lehrerinnen und Lehrer, die es ja dennoch gibt.

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